RNA + Gesellschaft

Vater der Genschere

Martin Jinek ist einer der Protagonisten der Crispr-Revolution. Der Biochemiker hat massgeblich zur Entwicklung der Genschere Crispr-Cas9 beigetragen, mit der Erbgut einfach, schnell und präzise verändert werden kann.

Biochemiker Martin Jinek. Bild: Philipp Rohner

Von Stefan Stöcklin

Martin Jinek ist ein zurückhaltender und höflicher Mensch. Doch wenn die Rede auf He Jiankui kommt, äussert sich der Biochemiker unmissverständlich: «He hat unverantwortliche Experimente durchgeführt, die den Kindern und der Wissenschaft schaden.» Durch die Manipulation früher Embryonen hat der chinesische Forscher letztes Jahr das Erbgut von Menschen erstmals unwiederbringlich verändert. Dies geschah mit einer genetischen Schere namens Crispr-Cas9, die Martin Jinek mitentwickelt hat. Sie erlaubt, Erbgut einfach, schnell, und präzise zu verändern. Deshalb hat sich die Crisp-Cas9-Technik in der Wissenschaft innert kürzester Zeit durchgesetzt.

He Jiankuis Eingriff ist ein Tabubruch. Jinek verfolgte die Konferenz in Hongkong, an der der fehlgeleitete chinesische Forscher der Fachgemeinde seine Experimente erläuterte – in ruhigem Ton und mit sichtlichem Stolz. «Ich hörte mit einer Mischung aus Unglauben und Ablehnung zu», erinnert sich Jinek. Und ärgert sich noch immer über die Verantwortungslosigkeit und Dreistigkeit des Wissenschaftlers. Zwar steht auch Monate nach dem Auftritt eine unabhängige Verifikation aus, doch kaum jemand zweifelt, dass der unterdessen abgetauchte He die Experimente wie behauptet durchgeführt hat.

Durchbruch in Kalifornien

Martin Jineks Büro auf dem Campus Irchel ist blitzblank aufgeräumt, die wenigen Bücher sind ordentlich aufgereiht. In einer Ecke steht eine Bassgitarre mit Verstärker, eine der wenigen Ablenkungen, die sich der Forscher erlaubt. Ansonsten wirkt der Raum nüchtern, reduziert aufs Wesentliche, ein Freiraum für neue Ideen und spannende Experimente. Als Forscher ist Jineks Renommee eng mit der Gen-Editier-Methode Crispr-Cas9 verknüpft. Zwar wird sein Name nicht als erster genannt, wenn von der revolutionären Methode die Rede ist. Als Erfinderinnen gelten Jennifer Doudna, Emmanuelle Charpentier oder Feng Zhang. Aber Jinek hat als Postdoc im kalifornischen Labor von Doudna entscheidende Experimente durchgeführt und diese im Jahr 2012 im Fachblatt «Science» publiziert. Die Publikation ebnete den Weg für eine breite Anwendung der Methode, die unterdessen weltweit zur Manipulation menschlicher, tierischer, pflanzlicher oder bakterieller Zellen verwendet wird, primär zu Forschungszwecken – in zweiter Linie zur Behandlung genetischer Krankheiten.

Die Arbeiten befeuerten den wissenschaftlichen Werdegang Jineks: Er ist Träger mehrerer Preise, mit 39 Jahren Associate Professor am Biochemischen Institut, weltweit vernetzt, Gruppenleiter eines 14-köpfigen Teams und begehrter Experte in Fachgremien und Medien. Kein Wunder, ist er «ausserordentlich zufrieden, wie die Dinge gelaufen sind». Dass die ehemalige Chefin Doudna und andere Leute stärker im Rampenlicht stehen, kann er verschmerzen. «So funktioniert Wissenschaft eben», meint er. Kommt dazu, dass die massgebenden Experten auf dem Gebiet sehr genau wissen, wie entscheidend sein Beitrag effektiv war.

Die wissenschaftliche Karriere wurde Martin Jinek nicht in die Wiege gelegt. Er stammt aus einer Provinzstadt im Nordosten des heutigen Tschechien. Zwar haben ihn naturwissenschaftliche Fächer bereits in der Schule interessiert, aber ebenso Sprachen, speziell das Englische. Das war Mitte der 1980er-Jahre in der ehemaligen Tschechoslowakei ungewöhnlich und dem Vater geschuldet, der sich politisch eher nach Westen als nach Osten orientierte und den Sohn zum Englischlernen ermunterte. Die Kenntnisse ermöglichten dem 17-Jährigen die erfolgreiche Bewerbung für ein High-School-Stipendium im britischen Reading. Das englische Internat war für den begabten Schüler danach Sprungbrett zum renommierten Trinity College in Cambridge, wo er Chemie und Naturwissenschaften studierte.

Biologische Maschinen

«Mich interessiert die Chemie lebender Zellen, genauer die molekularen Mechanismen von Biomolekülen», sagt Jinek in akzentfreiem Englisch. Stellt man sich die wichtigen Biomoleküle einer Zelle als eine Art Maschine vor, die dank ihrem atomaren Aufbau bestimmte Aufgaben erfüllen kann, dann eröffnet die Kenntnis ihrer räumlichen Strukturen Einblick in die Funktionsweise. Besonders aufschlussreich sind Strukturveränderungen, wenn verschiedene Moleküle miteinander interagieren. Zum Beispiel die Erbgutmoleküle DNA und RNA mit Proteinen, weil bei diesen Vorgängen genetische Informationen aktiviert oder deaktiviert werden. «Nur durch die Kenntnisse der Strukturen können wir die Prozesse in Zellen verstehen», sagt Jinek.

Schon bei seinen ersten Forschungsarbeiten als Student im Labor von Kyoshi Nagai in Cambridge beschäftigte sich Martin Jinek mit Strukturen von Biomolekülen und ihren Funktionen: «Nagai hat diese Leidenschaft in mir entfacht.» Später, während seiner Dissertation in Heidelberg im Labor von Elena Conti, studierte er die Aktivität enzymatischer Proteine. Danach rückte die Nukleinsäure RNA in den Fokus, denn das einsträngige Molekül sei biologisch gesehen interessanter als die doppelsträngige DNA, findet Jinek. In Jennifer Doudnas Labor beschäftigte er sich zunächst ohne Erfolg mit einem anderen Projekt, bevor er auf das Crispr-Thema aufmerksam wurde. Jinek nahm das System strukturbiologisch unter die Lupe und landete 2012 seinen grossen Coup. Unmittelbar nach diesem wissenschaftlichen Höhepunkt kam er als Assistenzprofessor an das Biochemische Institut der UZH. Seither baut er Schritt für Schritt seine eigene Gruppe auf und publiziert in hoher Kadenz. «Die Wechselwirkungen zwischen RNA und Proteinen, die auch bei Crispr wichtig sind, bleiben mein Steckenpferd», sagt Jinek.

Der Forscher, der in Basel lebt und an seinen Arbeitsort pendelt, wirkt gut organisiert und wägt seine Antworten ab. Sowohl vom Temperament her als auch von der äusseren Erscheinung ist Jinek das pure Gegenteil eines zerstreuten Professors, der das Chaos liebt. Ordnung herrscht nicht nur im Büro, auch die Labors machen einen properen Eindruck. Wie zu vernehmen ist, veranstaltet Jinek mit seinem Team ab und zu Laborputztage. Bei der Frage, was gute Wissenschaft ausmache, bezieht er sich auf seine Lehrmeisterinnen und Lehrmeister. «Von ihnen habe ich gelernt, die richtigen Fragen zu stellen. Und diese Fragen mit den passenden Experimenten anzugehen.» Eine Devise, die er verinnerlicht hat und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mitzugeben versucht. Offenbar mit Erfolg, denn er gilt als guter Mentor. 

Genetische Leiden kurieren

He Jiankui, könnte man sagen, hat die falschen Fragen gestellt. Denn das Crispr-Cas9-System ist noch nicht verlässlich genug, um unerwünschte genetische Effekte auszuschliessen. «Die Eingriffe sind für die Kinder nicht nur gefährlich, sie waren medizinisch gesehen auch unnötig», sagt Jinek. Der von He beabsichtigte Schutz vor HIV wäre in diesem Fall auch anders erzielbar gewesen. Problematischer ist der ethische Tabubruch, denn die Genmanipulation wird an künftige Kinder der Betroffenen vererbt. In den meisten Ländern sind Keimbahntherapien verboten, auch in der Schweiz. «An diesem Verbot sollten wir festhalten», sagt Jinek.

Für die Grenzüberschreitung des Kollegen fühlt sich der Forscher nicht verantwortlich. «Wissenschaftliche Erkenntnisse können immer missbraucht werden», sagt er. Und verweist auf die sinnvollen medizinischen Anwendungen, die dank der Genschere möglich werden. Neben seiner Grundlagenforschung arbeitet Jinek mit verschiedenen Kollegen an der Optimierung des Crispr-Systems zur Heilung bestimmter Krebskrankheiten und genetischer Leiden. Die geplanten Interventionen betreffen in diesen Fällen nur somatische Zellen und damit keine nachfolgenden Generationen. «Crispr-Cas9 bringt medizinischen Fortschritt», ist Martin Jinek überzeugt. Für ihn ist klar: Die Genschere wird sich behaupten, trotz des Irrläufers He.

Berg oder Strand? - «Noch lieber Regenwald»

Wo sind Sie am kreativsten? – Im Büro oder beim Kochen. 

Was machen Sie, um den Kopf auszulüften und auf neue Gedanken zu kommen? – Am liebsten musizieren, joggen oder lesen. 

Mit welcher (berühmten) Persönlichkeit würden Sie gerne zu Abend essen und weshalb? – Mit David Gilmour, Gitarrist und Songwriter von Pink Floyd. Ich spiele selbst etwas Gitarre und sein Musikstil gefällt mir. 

Drei Bücher, die sie auf die einsame Insel mitnehmen würden? – «1984» von George Orwell, «Der kleine Prinz» von Antoine de Saint-Exupéry, «Der Spion, der aus der Kälte kam» von John le Carré. 

Kugelschreiber oder Laptop? – Weder noch, am liebsten Füllfederhalter. 

Berg oder Strand? – Berge oder noch lieber Regenwald. 

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